Vergessene Stadtrechte
Der unerwartete Fund einer Urkunde, die von der Erlenbacher „Freyheit“ spricht und auch ein „Alten Erlenbach“ erwähnt, war der Anlass, die mittelalterliche Geschichte der heute größten Kommune des Landkreises Miltenberg eingehender zu erforschen. Überraschenderweise ergaben sich zahlreiche neue Erkenntnisse.
Die überlieferten Symbole der Erlenbacher „Freiheit“
Die wesentlichsten Forschungsergebnisse sind folgende: Die sowohl schriftlich (erstmals 1668 erwähnt) als auch in symbolischer Form überlieferte „Freiheit“ von Erlenbach am Main geht nicht, wie man bisher in Anlehnung an eine (im 19. Jahrhundert entstandene) Sage angenommen hat, auf ein durch Kaiser Friedrich Barbarossa vergebenes Marktprivileg zurück. Sie stellt vielmehr den über bewegte Zeiten hinweg geretteten Rest von Stadtrechten dar, die König Ruprecht im Jahr 1402 dem Edlen Konrad VI. von Bickenbach für ein von ihm dort geplantes Städtchen namens Neuental verliehen hat. Die hierzu vorgenommene Umsiedelung eines Teiles von Erlenbach erklärt die frühere Flurbezeichnung „Altdorf“ nordwestlich der Kirche und die in diesem Bereich aufgefundenen Relikte einstiger Baulichkeiten.
Siehe hierzu meine beiden Aufsätze (Zugang
unten): Vergessene
Stadtrechte von Erlenbach am Main In: Zeitschrift „Spessart“, März 2010, S. 3-18, und Wer waren
die Herren von Kesselberg?
Bemerkungen zur neuen Erlenbacher Chronik: In der 2021 erschienenen Chronik „Erlenbach a.
Main. Die Geschichte einer Stadt“ von Dietmar Andre wird einigen der in
meinen beiden oben genannten Aufsätzen dargestellten
Forschungsergebnissen und Aussagen mit unzutreffenden und unhaltbaren
Argumenten begegnet. So wird u. a. behauptet:
Ø
Die 1402 durch König Ruprecht
verliehenen Stadtrechte habe nicht Erlenbach, sondern eine vor den
Mauern der Stadt Klingenberg gelegene Häusergruppe erhalten (S. 97 ff).
Entgegnung: Für eine solche abnorme Konstellation liegen keinerlei
Anhaltspunkte vor, sie ergäbe auch keinen Sinn. Bei der in einer
angeblichen Beweisurkunde von 1534 (zit. von Andre auf S. 100)
gebrauchten Formulierung „Schloss und Tal Klingenberg“ ist mit „Tal“
eindeutig die Stadt Klingenberg gemeint: Sie wäre sonst als mainzischer
Besitz, der hier aufgezählt wird, überhaupt nicht erwähnt! Hinter der
auch sonst bei manchen Burgstädten gebrauchten Bezeichnung „Tal“ (z. B.
Schloss und Tal Ziegenberg in der Wetterau) verbarg sich also nicht, wie
Andre meinte, die Minderstadt Neuental.
Ø
Es gebe keinerlei Überlieferung, die für eine in Erlenbach begonnene
(später aufgegebene) Umwandlung in ein Städtchen Neuental spreche (S.
98).
Ø
Dem in den Urkunden von 1445 und 1486 angeführten „Alten Erlenbach“ und
dem in einem Erlenbacher Zinsbuch des 16. Jahrhunderts mehrfach als
Lagebezeichnung von Grundstücken genannten „Alten Dorf“ (Ober/Unter dem
alten Dorf u. ä.) komme weiter keine Bedeutung zu: damit sei lediglich
das damalige Dorf Erlenbach gemeint gewesen. Der Flurname „Altdörfer“
sei von Allmende (gemeinsam genutztes Gemeindeeigentum) und nicht von
Altdorf abgeleitet (S. 92 ff, 101).
Ø
In dem als ehemalige Altsiedelfläche angesprochenen Gelände nordwestlich
der Kirche (damit war nicht das bei Andre auf S. 92 abgebildete
Steilufer am Main gemeint, sondern der angrenzende ebene Bereich) habe
es keine Relikte einstiger Baulichkeiten gegeben. Entgegnung:
Von solchen, gefunden
in der zwischen Altdorfstraße und Brückenstraße gelegenen Flur
Hühnerweingarten/Hühnerweinberg (diese Bezeichnung überlagerte den
älteren Flurnamen Altdorf) berichten jedoch Helmut Monert und Reinhold
Schröder in ihrem Büchlein über den Weinbau in Erlenbach (S. 15, 69). An
anderer Stelle geht übrigens auch Andre (S. 51) davon aus, dass die Flur
Altdorf früh besiedelt gewesen sei.
Ø
Da es kein Altdorf, keinen verlassenen Teil des Ortes gegeben habe,
könne auch keine Veränderung der Siedlung hin zu einem wehrhaften
Städtchen Neuental erfolgt sein (S. 94 ff).
Ø
Die Bickenbacher Herren der Clingenburg seien finanziell zu unvermögend
für eine Stadtgründung gewesen (S. 95).
Mit seinen angeführten und weiteren unhaltbaren
Behauptungen versuchte der (zwischenzeitlich leider verstorbene) Autor
den Eindruck zu erwecken, Erlenbach habe nichts mit der (gescheiterten)
Stadtgründung Neuenthal zu tun. Die Herkunft der überlieferten
Erlenbacher Freiheitsrechte sei somit ungeklärt und könne demnach – das
war die überdeutliche Intention des Autors – weiterhin mit Barbarossa in
Verbindung gebracht werden. Der frühere Direktor des Erlenbacher Gymnasiums
und Kreisheimatpfleger des Landkreises Miltenberg, Dr. Werner Trost, hat
sich ebenfalls intensiv mit der älteren Erlenbacher Geschichte und ihrer
Barbarossasage beschäftigt. Die Tatsache, dass er sich in jüngeren
Publikationen (Landkreisbüchern) vorbehaltlos für meine Erlenbach-Neuenthal-These
ausgesprochen hat, verschweigt der Autor (obwohl er Trost ansonsten oft
zitiert). Hingegen zählt er mehrere bereits verstorbene Historiker auf
mit dem Hinweis, diese hätten sich nicht für einen Zusammenhang
zwischen den Erlenbacher Freiheitsrechten und dem Königsdiplom von 1402
ausgesprochen. Wie sollten sie auch?! Die in meinen beiden Aufsätzen
aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge waren gar nicht bzw. nur teilweise
bekannt. Dies trifft auch auf die frühere Angabe der Regesta Imperii zu,
wo Neuental in Unkenntnis lokaler Überlieferungen für einen abgegangenen
Ort unbekannter Lage gehalten worden war. Zwischenzeitlich wird von der
Redaktion der Regesta Imperii online im Nachtrag zur zitierten
Königsurkunde auf meinen Aufsatz „Die vergessenen Stadtrechte von
Erlenbach am Main“ verwiesen. Es war dem Autor der neuen Erlenbacher Chronik
ein tiefgehendes Anliegen, dass die Stadt ihre auf der bekannten Sage
beruhende tief verwurzelte,
liebenswerte Barbarossa-Tradition
weiter pflegt und bewahrt, weil
sie die Verbindung der Erlenbacher zu ihrem Heimatort gestärkt hat. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch bedarf es
hierzu unhaltbarer Behauptungen, einer Negierung neuer historischer
Erkenntnisse? Dass Dietmar Andre, der Hauptinitiator des im
Jahr 2008 mit großem Aufwand begangenen „Barbarossa-Spectaculum“, beim
Verfassen seiner Chronik keineswegs überzeugt war, dass Erlenbach nichts
mit den von König Ruprecht im Jahr 1402 verliehenen Neuental-Stadtrechten
zu tun hat, offenbart sich in seinem das entsprechende Kapitel
abschließenden Appell (S. 101):
Man möge nicht alles auf König Ruprecht übertragen, zumal dieser im Ort
kaum bekannt sei. Es spricht absolut nichts dagegen, auch künftig
die Barbarossa-Sage zum Gegenstand von Theateraufführungen zu machen,
auch wenn die Erlenbacher Freiheitsrechte in Wirklichkeit einen anderen,
urkundlich gesicherten und plausibel nachvollziehbaren Hintergrund
besitzen. Übrigens verdankt auch die Stadt Alzenau ihre
ersten, ebenfalls nicht realisierten Stadtrechte demselben König
Ruprecht, genauer gesagt einem Diplom des Wittelsbachers aus dem Jahr
1401. Bemerkenswert ist, dass Ruprecht in Alzenau als Kaiser gehandelt
wird, obwohl er diesen Titel nicht erlangen konnte.
Erlenbacher Wein für Kaiser Barbarossa? Da der Erbauer der nahen Clingenburg, der
Reichsministeriale Konrad Kolbo von Schüpf (1152-1189), sowohl
Mundschenk von Kaiser Friedrich Barbarossa als auch Ortsherr von
Erlenbach war und hier nachweislich schon früh Wein angebaut worden ist,
kann mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass
Konrad seinem Dienstherrn auch so manchen Schoppen des geschätzten
Erlenbacher Weines kredenzt hat, zumal Erlenbach zweifellos älter ist
als die im Schutz der Burg entstandene Siedlung und spätere Stadt
Klingenberg. So gesehen lässt sich doch eine Verbindung zwischen
Erlenbach und dem Stauferkaiser herstellen.
Lesen:
Vergessene
Stadtrechte von Erlenbach am Main Ergänzend hierzu:
Wer waren die Herren von
Kesselberg?
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