Sankt Martinskirche in Großostheim

 

 

Zur Frühgeschichte von Großostheim
und seiner alten Pfarrkirche

 

 

Sankt Martinskirche in Großostheim

 

 

Am 16. und 17. Januar des Jahres 828 überführte Einhard, der bekannte Biograph, Kunstbeauftragte und Vertraute Kaiser Karls des Großen, die Reliquien der Heiligen Marcellinus und Petrus von Michelstadt-Steinbach im Odenwald nach Seligenstadt am Main, das damals noch Obermühlheim hieß. In seinem Bericht von diesem Ereignis erzählt Einhard, daß die Prozes­sion am Abend des ersten Tages den in der Nähe des Weges gelegenen Ort Ostheim aufge­sucht habe. Hier seien die Reliquien in der dem Hl. Martin geweihten Kirche (Basilika) auf­bewahrt worden. Diese Angaben galten bis in jüngste Zeit als früheste Nachrichten von Groß­ostheim und seiner alten Pfarrkirche.

 

Im Rahmen von Untersuchungen zur Geschichte des frühmittelalterlichen Klosters Mosbach („Machesbach“) im Bachgau[1], von dessen Existenz wir ebenfalls durch Einhards Translationsbericht wissen, stieß ich auf ältere Belege für Großostheim und seine Kirche[2]. Überliefert sind sie im sogenannten „Codex Eberhardi“ des ehemaligen Reichsklosters Fulda, der heute im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt wird. Der von dem fuldischen Mönch Eberhard um 1160 erstellte Codex enthält Auszüge der ältesten Besitzurkunden der 744 von Bonifatius gegrün­deten Benediktinerabtei[3]. Diese Quellensammlung ist, trotz einiger Mängel, sehr wertvoll, weil die Originalurkunden – sie betreffen meist Schenkungen an das Kloster – längst verloren sind. Eberhard hat die Namen der zahlreichen Schenker sowie Orte und Gegenstände ihrer Be­sitzübertragungen verzeichnet, jedoch auf Zeitangaben verzichtet. Viele der Traditionen sind deshalb nicht genau datierbar und lassen sich lediglich den (bekannten) Amtszeiten Fuldaer Äbte zuordnen bzw. auf andere Weise zeitlich einengen.

 

Insgesamt enthält der Codex Eberhardi sechs Nennungen eines Ostheim, die mit einiger Sicherheit auf Großostheim bezogen werden können. Die damit verbundenen Personennamen klingen in unseren Ohren recht exotisch: Lubicho mit Gattin Rupurch, Rutgis, Albsuint, Anstrat, Hilteger mit Gemahlin Bertsuint, Rampraht mit Frau Albwiz. Wie diesbezügliche Untersuchungen ergaben, handelt es sich bei diesen (und vielen weiteren) Wohltätern der Bonifatiusabtei wohl durchweg um Angehörige einer über den kleineren ländlichen Grund­besitzern stehenden sozialen Oberschicht.

 

Die früheste Schenkung dürfte jene von Lubicho und seiner Gattin Rupurch darstellen. Der betreffende Eintrag lautet: Lubicho et uxor eius Rupurch traditerunt sancto Bonifacio in villa Ostheim bona sua et Phlumheim II mansos et X mancipia.

 

Übersetzt: Lubicho und seine Frau Rupurch übergaben dem Hl. Bonifatius (gemeint ist das Kloster Fulda, in dem der von den Friesen erschlagene Missionsbischof beigesetzt ist) ihre Güter in Ostheim sowie zwei Hufen und zehn Hörige in Pflaumheim.

 

Die gemeinsame Nennung von Ostheim und Phlumheim stellt außer Frage, daß es sich um die Bachgauorte Großostheim und Pflaumheim handelt. Erkennbar wird damit auch eine sehr alte besitzgeschichtliche Verbindung der beiden Nachbargemeinden, die seit 1978 politisch vereint sind.

 

Im Urkundenbuch des Klosters Fulda wird die Schenkung von Lubicho und Rupurch in den Zeitraum 780 – 799 (?) datiert. Letzteres Eckdatum ist deshalb mit einem Fragezeichen ver­sehen, weil im Jahr 800 Lubicho mit einer Gattin namens Egina auftritt, Rupurch also späte­stens 799 gestorben ist[4]. Nach neueren Erkenntnissen könnte Rupurch mit einer Rutburc iden­tisch sein, die bereits 790 nicht mehr am Leben war[5]. Das gewählte Jubiläumsdatum 799 bietet jedenfalls die Gewähr, daß die Marktgemeinde Großostheim auf sicherer historischer Basis ihre 1200-Jahr-Feier begeht[6].

 

Was bei solchen Jubiläen immer wieder hervorzuheben ist, trifft auch auf Großostheim zu: die zeitliche Differenz zwischen der vom Schicksal der frühen schriftlichen Zeugnisse abhängi­gen Ersterwähnung einer Siedlung und ihrem wahren Alter. Diese Zeitspanne näher zu bestimmen, fällt der Archäologie und der Ortsnamenkunde zu. Auf deren Großostheim betref­fende Aspekte, insbesondere die Frage nach der Entstehung des Ortsnamens Ostheim, kommen wir noch zu sprechen[7].

 

Der im ausgehenden 8. Jahrhundert in Großostheim begüterte Lubicho ist höchstwahrschein­lich personengleich mit dem zeitgleich im Grabfeld und Saalegau auftretenden Grafen Liwicho. Im Maingau, zu dem unsere Gegend zählt, verfügte Liwicho auch in Messel und (Ober-, Nieder-)Roden über Besitz. Die für 786 belegte Äbtissin und Eigentümerin des Klosters Roden namens Aba betrachtet man als Schwester von Lubichos Mutter[8].

 

Ähnlich weitreichende Beziehungen sind auch bei den anderen in Großostheim früh begüter­ten Tradenten auszumachen[9]. Näher eingehen wollen wir hier nur noch auf die darunter be­findliche Dame namens Anstrat. Ihr verdankt nämlich die Abtei Fulda eine besondere Schen­kung. Die in die Zeit Abt Ratgars (802 – 817) zu datierende Notiz im Codex Eberhardi lautet: Anstrat de Moyngewe trad[idit] s[an]c[t]o Bon[ifatio] unam ecclesiam in Ostheim eum omni proprietate sua. [10] Anstrat schenkte also dem Bonifatiuskloster mit ihrem gesamten Be­sitz im Maingauort Ostheim auch eine Kirche!

 

Die Identität dieses Gotteshauses mit der von Einhard erwähnten St. Martinskirche darf als sicher gelten. Zum einen ist keinerlei Anlaß gegeben, von der Existenz zweier karolingerzeitlicher Kirchen im Ort auszugehen. Zum anderen war es mit großer Wahrscheinlichkeit die gleiche Wohltäterin mit dem seltenen Namen Anstrat, die im Wetterauort Holzheim (südlich von Gießen) gegen Ende des 8. Jh. (vermutlich 793) eine Kirche an die Reichsabtei Lorsch geschenkt hat. Dieselbe Urkunde im Lorscher Codex be­richtet noch, daß Anstrat damals auch über hochwertige Reliquien verfügt hat. Namentlich genannt sind solche der Heiligen Petrus, Petronella und – das ist für uns besonders interessant – des Hl. Martin!

 

In Verbindung mit diesem Sachverhalt lassen sich zumindest folgende Feststellungen treffen:

·        Die St. Martinskirche in Großostheim wurde durch den Adel errichtet; sie war eine grund­herrschaftliche Eigenkirche.

·        Da Anstrat über diese Kirche alleine verfügen konnte (über die Holzheimer zusammen mit einem Ozilo), das Eigentumsrecht also noch nicht – wie für andere frühe Kirchen über­liefert – unter mehreren Familienangehörigen geteilt war, dürfte die Gründung der Groß­ostheimer Kirche durch Anstrat selbst – das ist am wahrscheinlichsten -, vielleicht auch durch ihren (vor der Schenkung verstorbenen) Gatten oder seitens ihrer Eltern erfolgt sein.

·        Datiert werden kann die Kirchengründung somit in die Jahrzehnte um 800, frühestens in die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts.

·        Die Existenz älterer Kirchen in Großostheims Nachbarschaft erlaubt – auch mit Blick auf Untersuchungsergebnisse zur sicher vergleichbaren frühen Kirchenorganisation der na­hen Wetterau – die Schlußfolgerung, daß es sich bei der Errichtung der Großostheimer St. Martinskirche um eine vom grundherrschaftlichen Adel getragene Ausbaumaßnahme eines bereits vorhandenen weitmaschigen Netzes früher Kirchen handelt.

 

Trotz ihrer zeitlich „zweitrangigen“ Stellung wuchs der Großostheimer Kirche eine zentrale Funktion zu, wie die frühere Abhängigkeit der Orte Pflaumheim, Ringenheim (wüst) und Niedernberg von ihr beweist. Diese überörtliche Bedeutung hat - zusammen mit dem Martinspatrozinium - schon mehrfach dazu verleitet, die Entstehung der Großostheimer Kirche in frühfränkische (merowingische/vorbonifatianische) Zeit zu datieren bzw. dem fränkischen Königtum zuzu­schreiben. Wie oben deutlich geworden ist, entzieht die bisher von der historischen Forschung nicht näher beachtete Anstrat-Schenkungsnotiz im Fuldaer Codex Eberhardi solchen Thesen jedoch den Boden.

 

Inwieweit unsere neuen Erkenntnisse zur Gründung von St. Martin in Großostheim für die Frühgeschichte anderer Altpfarreien der Umgebung von Bedeutung sind, insbesondere für solche mit dem gleichen Patrozinium, muß im Einzelfall überprüft werden. Unser Interesse gilt hier mehr der Dame Anstrat. Das, was die Fuldaer und Lorscher Quellen von ihr überlie­fert haben, ist spärlich. Ihr reicher Besitz, darunter zwei Kirchen und Reliquien so namhafter Heiliger wie Petrus, Petronella und Martin, machte bereits deutlich, daß sie einer sehr hoch­stehenden Familie angehört haben muß.

 

Vermutlich entstammt Anstrat – die Ursprungsform ihres Namens dürfte Ansrat(a) oder Anstrud lauten – der Sippe des ostfränkischen Großen Radulf. Eine Tochter Radulfs war Fastrata, die dritte Gattin Karls des Großen. Enge verwandtschaftliche Verbindungen zu Fastrata (Anstrats Schwester?) und damit zum fränkischen Königshaus könnten erklären, wie Anstrat in den Besitz der hochwertigen Reliquien, insbesondere des Frankenheiligen Martin, gelangt ist.

 

Als Sohn Anstrats ist ein Gerhard belegt. Es ist sicher der gleiche Gerhard, der u. a. in Kleinostheim am Main begütert war. Ozenheim, die alte Namensform von Kleinostheim, führt man auf den Personennamen Ozo zurück, was für uns insofern bemerkenswert ist, als Anstrat die Holzheimer Kirche zusammen mit Ozilo verschenkt hat, dessen Name die Ver­kleinerungsform von Ozo ist.

 

Gerhard hatte auch in Mainflingen Besitz, ebenso sein Bruder Gernant. Auf Ippin, einen wei­teren Bruder, führe ich den Ort Ippingshausen zurück. Diese wüstgewordene Siedlung stand in der Nachbarschaft des Klosters Roden. Als dieses (wahrscheinlich im Bereich der alten Pfarrkirche von Oberroden gelegene) Familienkloster von seiner Äbtissin Aba 786 an Lorsch geschenkt wurde, fungierte Gerhard als Spitzenzeuge. Daß Lubicho, dem Großostheim seine urkundliche Erstnennung verdankt, als Neffe Abas gilt, wurde bereits erwähnt.

 

Die maßgebliche genealogische Klammer dieser und weiterer Verbindungen, darunter solche zu den Eigentümern des anderen frühmittelalterlichen Maingauklosters in Mosbach (das Ein­hardskloster Seligenstadt entstand erst einige Jahre später) stellen sehr wahrscheinlich die Haganonen dar, die Gründerfamilie des Mainzer Klosters Altmünster (Hagenmünster). Es ist nämlich ein Hagano, der als Vater Gerhards und Anstrats Gatte erschließbar ist.  Den Haga­nonen wird auch Theodo zugerechnet, der Vater der Rodener Äbtissin Aba, sowie Williswind, die Stammutter der Rupertiner. 764 hat sie mit ihrem Sohn Cancor die bekannte Abtei Lorsch gegründet.

 

Diese kurzen Bemerkungen zum verwandtschaftlichen Umfeld der Großostheimer Tradenten Lubicho und Anstrat dürften genügen, um ihre engen Verbindungen zu namhaften frühmittel­alterlichen Adelsgeschlechtern anzudeuten. Der hohe soziale Rang der frühen Dorfherren, die vorteilhafte Lage der Siedlung in der Bachgauebene und die bereits von Einhard – sicher nicht zufällig – gewürdigte Bedeutung des Ortes und seiner an beherrschender Stelle errichteten Martinskirche[11], diese Faktoren korrelieren mit der herausragenden Position, die Großostheim in den folgenden Jahrhunderten als Hauptort der Cent Bachgau – auch „Grafschaft Ostheim“ genannt – und des Landkapitels „Montat“ einnahm.

 

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Wolfgang Hartmann: Kloster Machesbach und frühmittelalterlicher Adel im Bachgau, in: Aschaffenburger Jahrbuch 16 (1993), S. 137 – 237.

[2] Mit Schreiben vom 5.8.1993 machte der Verfasser die Marktgemeinde Großostheim auf diesen Sachverhalt sowie auf die in der gleichen Quelle enthaltenen frühen Nennungen von Pflaumheim aufmerksam und wies zugleich darauf hin, daß die damals bereits geplante (und 1994 durchgeführte) 1200-Jahre-Jubiläumsfeier des Ortsteils Pflaumheim sich auf eine Urkunde (von 794 = Lorscher Codex Nr. 3549) stützt, die in Wirklichkeit nicht Pflaumheim, sondern den Ort Biebigheim (Wüstung zwischen Pflaumheim und Wenigumstadt) nennt. Zu diesem Mißverständnis führte offensichtlich eine undifferenzierte (und von den Festinitiatoren nicht näher überprüfte) Angabe von Roland Wohner: Obernburg (Hist. Atlas von Bayern, Teil Franken I/17), München 1968, S. 38. Zu den frühen urkundlichen Belegen für Pflaumheim und den Pflaumgau vgl. Hans-Bernd Spies: Bemerkungen zur Geschichte Pflaumheims bis ins 14. Jahrhundert, in: Lothar Rollmann (Hrsg.): 1200 Jahre Pflaumheim 794 – 1994, Großostheim-Pflaumheim 1994, S. 22 – 35. Zu den in Pflaumheim begüterten fuldischen Tradenten vgl. Hartmann (wie Anm. 2) unter den auf S. 147 zusammengestellten Namen (Register).

[3] Vgl. hierzu auch die neue Edition des Werkes durch Heinrich Meyer zu Ermgassen (Hrsg.): Der Codex Eberhardi des Klosters Fulda (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 58), Bd. 1 und 2, Marburg 1995 und 1996.

[4] Vgl. hierzu Edmund E. Stengel (Bearb.): Urkundenbuch des Klosters Fulda. Bd. I: Die Zeit der Äbte Sturmi und Baugulf (Veröffentlichungen der Hist. Kommission für Hessen und Waldeck 10, 1), Marburg 1958, S. 371, Vorbemerkung zu Nr. 262.

[5] Wolfgang Hartmann (wie Anm. 2), S. 169.

[6] Zum abweichenden Jubiläumsdatum von Pflaumheim vgl. Anm. 3.

[7] Vgl. dazu meinen Aufsatz: Ringenheim – namengebende Muttersiedlung von (Groß‑)Ostheim.

[8] Vgl. Wolfgang Hartmann (wie Anm. 2), S. 149.

[9] Vgl. Wolfgang Hartmann (wie Anm. 2) ) unter den obengenannten Namen (Register).

[10] Die Datierung des Eintrages basiert auf einer mir mit Schreiben vom 26.04.1991, Nr. II/304/91, erteilten Auskunft des Staatsarchivs Marburg.

[11] Zum Verlauf des von Einhard gewählten Translatio-Weges vgl. Wolfgang Hartmann: Der Einhardweg von Michelstadt nach Seligenstadt, in: „gelurt“ – Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1997, Erbach 1996, S. 93 – 102.

 

Literatur
Wolfgang Hartmann: Die ältesten schriftlichen Nachrichten von Großostheim und seiner alten Pfarrkirche.
In: 1200 Jahre Großostheim, Großostheim 1999, S. 17-22.

 

 

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