Forschungsthemen von Wolfgang Hartmann

 

Wackenbrunn
 

Zur Geschichte eines verschwundenen Dorfes im Mümlingtal

 

Wackenbrunn bei Neustadt im Odenwald 

 

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist heute eine Siedlung, die einst unweit der Burg Breuberg im Mümlingtal lag. Sie trug den Namen: "Wackenbrunn".

 

 

Die Ritter von Wackenbrunn

 

Die Bedeutung der Herren von Breuberg in der Geschichte des kleinen Ortes wird bereits in der ältesten urkundlichen Nachricht erkennbar. 1246 verzichteten die Brüder Arnold, Hertwig und Albert, genannt „Wackenburne“, auf den ihnen im gleichnamigen Dörfchen von der Herrschaft Breuberg zu Lehen gegebenen Zehnten zugunsten des Nonnenklosters Höchst.

 

In Wackenbrunn war also ein altbreubergisches Vasallengeschlecht ansässig, somit ein ritterlicher Wohnsitz vorhanden. Wie er aussah wissen wir nicht, doch war er bestimmt in wehrhafter Form erbaut. Dass die hier als „villa“ bezeichnete Siedlung mehr umfasste als den Edelsitz, dass zu ihr mindestens ein Bauernhof gehörte, liegt auf der Hand (und ist für später auch belegt), denn wer sonst hat die Flur bewirtschaftet und den Zehnten an die Ritterfamilie abgeliefert.

 

Da um diese Abgabe der Urkunde zufolge vorher mit dem Kloster gestritten worden war und die nunmehrige Abmachung in Gegenwart von 22 Zeugen getroffen wurde (unter ihnen mehrere hier erstmals greifbare Angehörige bekannter Adelsgeschlechter unserer Gegend), wird erkennbar, dass der Wackenbrunner Zehnt einige Bedeutung besessen haben muss.

 

1258 taucht ein „Wortwinus de Wackenburnen“ in einer für das Kloster Schmerlenbach ausgestellten Urkunde als Zeuge auf. Sein Name deutet auf eine nahe Verwandtschaft oder Identität mit dem wenige Jahre später als Zeuge für die Herren von Breuberg auftretenden „Wortwinus de Reibach“. In ihm haben wir den ersten bekannten Angehörigen der Ritter von Raibach (Rai-Breitenbach) vor uns.

 

Letztere sind Anfang des 15. Jh. mit dem breubergisch-wertheimischen Amtmann Henne von Raibach im Mannesstamm erloschen. Bezeichnenderweise hatte dieser Ritter auch Besitz in Wackenbrunn, und zwar eine Wiese „bey der Brucken gelegen“. Dieses breubergische Lehen kam 1455 zum Teil an den Niederadeligen Hans Waltmann. Wahrscheinlich führt der Besitzweg über den Ritter Helfrich Bach, da dieser 1429 von Breuberg-Wertheim eine „Mannsmathwiese“ zu Wackenbrunn als Lehen erhielt, die oberhalb und unterhalb der Brücke lag. Das Rittergeschlecht mit dem Beinamen „Bach“ hatte Wohnsitze in Raibach, Mömlingen, Neustadt und am Neustädter Hof.

 

 

Der neuen Stadt einverleibt

 

Letztgenannte Siedlung, 1113 erstmals urkundlich erwähnt, hieß früher Neustatt („Nuwenstat“), weshalb sie von der Geschichtsforschung lange mit Neustadt im Odenwald verwechselt wurde. Die neue Stadt zu Füßen des Breuberges ist jedoch erst 1378 von Graf Johann I. von Wertheim, dem damaligen Mitinhaber der Herrschaft Breuberg, gegründet worden.

 

Dieser Vorgang steht in direktem Zusammenhang mit dem Wüstwerden von Wackenbrunn. In einem Weistum von 1432 ist folgendes zu lesen: „... auch hatt die Herrschaft von Wertheim ein eygen Hoff der hiez Wackenbron und waz gelegen by Nuwenstat, den gab die Herrschaft ... den armen luten eyn teyl der eckere und wiesen ...“.

 

Damit wird erkennbar, warum Wackenbrunn eingegangen ist. Die Grafen von Wertheim haben ihre dort gelegenen, zu ihrem Hof gehörigen Äcker und Wiesen, soweit sie nicht als Lehen an Niederadelige vergeben waren, den „armen Leuten“, also den bäuerlichen Einwohnern ihrer neugegründeten Stadt überlassen. Sehr wahrscheinlich befanden sich unter den nunmehrigen Stadtbürgern auch die letzten Bewohner von Wackenbrunn. Ähnlich erging es damals den Einwohnern des Dorfes Arnheiden. Auch sie wurden von Graf Johann I. von Wertheim in die von ihm gegründete Neustadt übersiedelt. Allerdings blieb dort ein herrschaftlicher Gutshof bestehen: der heutige Arnheiter Hof.

 

Der Umstand, dass um 1378 nur noch ein Hof in Wackenbrunn vorhanden war, muss nicht bedeuten, dass dort zuvor sonst keine weiteren bäuerlichen Hofstätten standen. Um die Mitte des gleichen Jahrhunderts haben nämlich gewaltige Pestseuchen unser Land heimgesucht und nachweislich auch im Mümlingtal ihre entvölkernden Spuren hinterlassen. Dass danach in erster Linie die Herrschaftshöfe wieder bewirtschaftet worden sind, versteht sich von selbst.

 

Warum Wackenbrunn - im Gegensatz zu Arnheiden - als Siedlung völlig aufgegeben worden ist, liegt in seiner Nähe zu Neustadt begründet, von wo aus die Wackenbrunner Fluren nicht nur auf kurzem Weg erreichbar und damit leicht zu bewirtschaften waren, sie bildeten offensichtlich auch den wesentlichen Bestandteil der Gemarkung von Neustadt. Wahrscheinlich gehörte deren südlich der Mümling gelegener Bereich einst komplett oder doch großteils zu Wackenbrunn.

 

Deutlich wird dies, wenn man historische Karten, die alten Straßenverbindungen und überlieferten Flurnamen eingehend studiert und mit der schriftlichen Überlieferung und den topografischen Gegebenheiten vergleicht. Auf diese Weise gelingt es auch, den Standort der Siedlung Wackenbrunn ziemlich genau zu lokalisieren.

 

 

Wo lag Wackenbrunn?

 

Richtungweisend ist zunächst der noch gebräuchliche Flurname „Backenbrunn“, der zweifellos eine Verschleifung von Wackenbrunn darstellt. Man findet ihn südlich der Mümling, ungefähr 700 Meter vom mittelalterlichen Neustadt entfernt. Während dieses eingezwängt zwischen der Mümlingtalaue und dem steil ansteigenden Breuberg liegt (und sich allein dadurch als „künstliches“ Gebilde ausweist), waren im breiten Gemarkungsteil südlich der Mümling die für eine sich selbst versorgende Siedlung notwendigen Acker- und Wiesenflächen in größerem Umfang vorhanden bzw. durch Rodung zu gewinnen. Gerade im Bereich „Backenbrunn“ ist der Boden von guter Qualität, und hier mündet auch ein kleines Seitental (mit dem rätselhaften Namen „Apotikke“) in die Mümlingtalebene.

 

An die Flur Backenbrunn schließt sich westlich die „Fuchshecke“ an. Eine Kundschaft von 1433 enthält die Aussage, dass einst „zwo Scheüern zu Wackenbronn an der Fuchs Hecken gestanden". Das ist der konkreteste Hinweis auf den Standort der - wohl letzten - Gebäude von Wackenbrunn.

 

 

Alte Verkehrsverbindungen

 

Auf das Gebiet Fuchshecke - Backenbrunn als ehemalige Siedlungsfläche deuten noch weitere Sachverhalte. Es befindet sich nämlich dort auch eine alte Wegkreuzung. Nach Osten stellt der „Fuchsweg“ die Verbindung mit Breitenbach-Raibach und dem Breitenbachtal dar. Nach Westen geht es über die „Apotikke“ nach Rimhorn bzw. auf dem „Fürstenweg“ über den Galgenberg und den Hang des Bohrberges nach dem Dörfchen Dusenbach, das mehrere Gemeinsamkeiten mit Wackenbrunn erkennen lässt. Nach Süden führt der früher auch als Viehtrieb genutzte Weg den „Tännchesberg“ hinauf in den ehemaligen Markwald der Cent Höchst (zu der Wackenbrunn gehört haben muss) und ebenfalls - jedoch geradliniger und steiler als über die „Apotikke“ - zum Höhenort Rimhorn.

 

Die größte historische Bedeutung kommt der in nördliche Richtung zielenden Verkehrsverbindung zu. Sie zieht über die (in jüngerer Zeit zusammen mit dem Fluss verlegte obere) Mümlingbrücke hinauf zum Breubergsattel und findet hier Anschluss an eine geschichtsträchtige Höhenstraße, die als „Alte Frankfurter Straße“ bekannt ist. Ihr für die frühmittelalterliche Geschichte des mittleren Mümlingtales bedeutendster Ast führt nach Groß-Umstadt. Im Jahr 766 erhielt nämlich das Reichskloster Fulda durch königliche Schenkung den Fiskus Umstadt, in dessen südlichem Bereich im Hochmittelalter die Burg und Herrschaft Breuberg entstanden. Die von Groß-Umstadt und der Burg Breuberg herkommende Verkehrsverbindung, die zielstrebig über die Mümling hinüber in die Flur Backenbrunn verläuft und Neustadt links liegen lässt (weil sie älter ist als dieses), stellt somit gewissermaßen die siedlungs- und herrschaftsgeschichtliche Nabelschnur von Wackenbrunn dar.

 

 

Siedlungsspuren früher Epochen

 

Wann die Siedlung Wackenbrunn entstanden ist, kann nicht genau bestimmt werden. Orientiert man sich am Ortsnamen, so ist anzunehmen, dass Wackenbrunn nicht der ältesten Schicht von Siedlungsgründungen angehört, so dass eine Entstehung nach 766, also unter fuldischer Oberherrschaft, wahrscheinlich ist. Das kann den konzentrierten Besitz der Herren von Breu­berg in Wackenbrunn erklären, denn sie waren Vögte der Reichsabtei Fulda.

 

Besiedelt war der Raum  um Wackenbrunn allerdings schon in vormittelalterlichen Epochen. So hat man in der Flur „Seewiesen“, ca. 500 m östlich der Wackenbrunner Altwegekreuzung, die Grundmauern einer römischen Villa ausgegraben. Damit im Zusammenhang zu sehen sind die Reste einer römerzeitlichen Mühle, die am Unterlauf des Breitenbaches entdeckt wurden. In noch frühere Zeit deutet eine wohl prähistorische Wallanlage auf dem nahe gelegenen steilen Bohrberg, wo der Sage nach die dann auf dem Breuberg erbaute Burg ursprünglich errichtet werden sollte.

 

 

Auf der Suche nach dem „Wackenbrunnen“

 

Eine beeindruckende Bestätigung für unsere Lokalisierung bietet auch der Ortsname Wackenbrunn selbst. Brunnen, also Quellen, gibt es im Umkreis mehrere, doch welcher ist der „Wackenbrunnen“? Dass eine ganz bestimmte Quelle diesen Namen trug und daß sie nicht im Wiesengrund zu suchen ist, verdeutlicht die Lageangabe „Acker am Wackenborn“. Was aber verbirgt sich hinter dem Bestimmungswort „Wacken“?

 

Die ältere Forschung ging davon aus, dass ein Franke „Wacko“ der namengebende Siedlungsgründer gewesen sein könnte. Träger dieses Namens sind beispielsweise als Wohltäter des im 8. Jahrhundert gegründeten Klosters Lorsch überliefert, das im Odenwaldraum zu umfangreichen Besitzungen gekommen ist. Trotzdem möchte ich dieser These widersprechen, denn der fragliche Namensbestandteil lässt sich auf andere Weise wesentlich überzeugender erklären: „Wacken“ ist nämlich der veraltete Begriff für Felsbrocken, für im Gelände liegende Feldsteine (vgl. „Wacken“ und „Wackensteine“ in Grimms Wörterbuch bzw. „Wackersteine“ in Grimms Märchen). Direkt am Hang oberhalb von Wackenbrunn, neben dem von der besagten Altwegekreuzung den Tännchesberg hinaufziehenden Weg liegen große und kleinere Feldsteine, ragen Felsen aus dem Boden!

 

Um sie zu bemerken, muss man heute etwas genauer hinsehen, da die meisten von Buschwerk, Wurzeln und Hecken überwuchert sind. Mehreren Gruben nach zu schließen ist auch Stein­material gebrochen und abtransportiert worden. Dass die dortigen Felsen früher zahlreicher und augenfälliger waren, ist anhand der amtlichen Messtischblätter erkennbar, auf denen sie schon immer eingezeichnet sind. Auffällig sind die Steine auch deshalb, weil es sich nicht um den sonst in der Gegend vorherrschenden Buntsandstein, sondern um Granit handelt. Auch dieser Umstand spricht für die einstige Bezeichnung als „Wacken“, denn diese ist vorwiegend für harte Gesteinsarten verwendet worden.

 

 

Der "Wackenbrunnen"

 

Am gleichen Berghang wie der felsige Viehtrieb, nur ein kurzes Stück westlich davon, stößt man auf eine gefasste (!) Quelle, deren Wasser mit dem im Talgrund der Apotikke plätschernden Bächlein zur nahen Wackenbrunner Wegkreuzung und weiter zur Mümling fließt. In dieser Quelle, die von manchen Einheimischen als heilkräftiger „Gesundheitsbrunnen“ geschätzt wird, möchte ich den alten „Wackenbrunnen“ sehen, so benannt nach den mar­kanten Wackensteinen in seiner Nähe - und selbst namengebend für die in der Nachbarschaft entstandene mittelalterliche Siedlung.

 

In den ehemals zu Wackenbrunn gehörenden Fluren gibt es noch andere Stellen, an denen Granit ansteht (am Fuße des Galgenberges wurde bis vor wenigen Jahren der Granit zu Schotter verarbeitet) oder Quellen sprudeln, doch stehen diese zum Siedlungsbereich von Wackenbrunn in keiner so engen räumlichen Beziehung, wie das bei dem oben beschriebenen Brunnen der Fall ist.

 

 

Geschichtsträchtige Flurnamen im Wiesengrund

 

Auch im einst breiten Wiesengrund zwischen der am hochwasserfreien, fruchtbaren Talrand gelegenen Siedlung Wackenbrunn und der Mümling haben sich geschichtsträchtige Flurnamen erhalten. Sie verdeutlichen, dass wir hier jene Wackenbrunner Grasflächen vor uns haben, von denen die oben zitierten Urkunden berichten, dass sie von der Herrschaft Breuberg an Niederadelige als Lehen vergeben waren. „Herrenwiese“ verweist auf die breubergischen Lehensherren. „Mannsfarth“ geht zweifellos auf die 1429 genannte „Mannsmathwiese“ zurück, was wohl im Sinne von „Mannsmahd“ zu deuten ist, als Wiesenfläche bestimmter Größe (die ein Mann am Tag mähen konnte?). Der dritte markante Flurname „Schelmenswiesen“ erinnert wie noch weitere im nördlichen Odenwald anzutreffende Bezeichnungen mit dem gleichen Bestimmungswort an die Ritterfamilie der Schelm von Bergen, die im Spätmittelalter Breuberger Burglehen besaßen und hier sogar einen Amtmann stellte.

 


Ein Kreis schließt sich

 

Bereits im 14. Jh. haben die Grafen von Wertheim erkannt, dass die von ihnen am Fuße des Breuberges gegründete neue Stadt auf die Gemarkung von Wackenbrunn angewiesen ist. In viel stärkerem Maße zeigt sich dies in unserer Zeit, allerdings immer weniger aus landwirtschaftlicher Sicht als vielmehr wegen des Bedarfes an Baugelände für Wohnhäuser, Gewerbe, Industrie und Verkehr.

 

 

Literatur

 Wolfgang Hartmann: Wackenbrunn – eine verschwundene Siedlung im unteren Mümlingtal.

In: Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1998, S. 69-74.

 

 

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