Forschungsthemen von Wolfgang Hartmann

 

 

Der Einhardweg

von Michelstadt nach Seligenstadt

 

Einhardsbasilika bei Michelstadt-Steinbach 

 

 

Der Einhardweg und seine Entstehung

 

Die Geschichte der Einhard-Basiliken in Michelstadt-Steinbach und Seligenstadt ist – wie unten näher beschrieben - eng verknüpft mit den Heiligen Marcellinus und Petrus, deren 827 von Rom in den Odenwald gebrachte Reliquien Einhard am 16. und 17. Januar 828 von Steinbach, wo sie ursprünglich bleiben sollten, nach Seligenstadt (damals Obermühlheim genannt) überführen ließ.

An dieses historisch bedeutsame Ereignis soll der 1995 von den Städten Michelstadt und Seligenstadt auf meine Anregung hin markierte „Einhardweg“ erinnern und dazu einladen, den alten Fernwegen zwischen den beiden romantischen Fachwerkstädten und ihren berühmten Basiliken zu folgen. Innerhalb des Odenwaldes bieten sich zwei von der Geschichtsforschung vertretene Routen an: ein anspruchsvoller Wanderweg über die Höhen östlich des Mümlingtales (Einhardweg-Markierung) sowie ein kürzerer Rad- und Wanderweg über Höchst (Radweg-Markierung) und die Alte Frankfurter Straße (Wegweiser: Radheim). Im Bachgauort Mosbach, wo ein von Einhard erwähntes Kloster bestand, vereinen sich beide Varianten und führen als ebener Wander- und Radweg (Einhardweg-Markierung) über Großostheim - hier übernachtete die Reliquienprozession - nach Seligenstadt.

 

 

Näheres zu Einhard

 

Geboren wurde der einer nicht näher einzuordnenden Adelsfamilie entstammende Einhard um 770 im Maingau, somit im Untermain-Odenwald-Raum. Sein Vater trug den gleichen Namen, seine Mutter hieß Engilfrit. Nach Studien im Reichskloster Fulda und bei dem berühmten Hoflehrer Alkuin stieg der hochbegabte Edelmann zum Kunstbeauftragten, Sekretär und engen Vertrauten Kaiser Karls des Großen auf. Dessen Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, setzte Einhard als Laienabt an die Spitze von sieben (!) bedeutenden Reichsabteien, verstreut von Gent und Maastricht im Norden bis Paris im Westen und Pavia im Süden des Karlsreiches. Die von Einhard verfassten Schriften waren und sind Gegenstand zahlreicher Publikationen deutscher und ausländischer Wissenschaftler. Bereits 1521 wurde sein bedeutendstes Werk: „Vita et Gesta Caroli Magni“ (Leben und Taten Karls des Großen) in Köln gedruckt. Es ist die einzige Lebensbeschreibung, die von einem Zeitgenossen des Kaisers stammt; und die erste Herrscherbiografie des Mittelalters.

 

Die Verbindung Einhards mit seinem Heimatraum intensivierte sich in seinen späten Lebensjahren. Auf seine Bitte hin schenkte ihm Kaiser Ludwig der Fromme im Jahr 815 die Mark Michelstadt und darüber hinaus auch Besitz im Raum Seligenstadt, das damals noch Obermühlheim hieß. 819 vermachten Einhard und seine Frau Imma, vermutlich auf Drängen des Kaisers, ihr Besitztum in Michelstadt dem Reichskloster Lorsch für den (auch eingetretenen) Fall, dass sie ohne leibliche Erben sterben sollten.

 

 

Abenteuerliche Beschaffung von Reliquien

 

Unweit von Michelstadt, nahe der Mümling, begann Einhard mit dem Bau einer dreischiffigen Pfeilerbasilika, die er bescheiden als „von nicht unrühmlicher Art“ bezeichnete. Hier, im abgeschiedenen Odenwald, wollten Einhard und Imma ihren Lebensabend verbringen, die Basilika sollte ihre Grablege werden.

 

Um seine Kirche weihen zu können, versuchte Einhard in den Besitz von Reliquien zu gelangen. Sein Sekretär Ratleik begab sich deshalb 827 nach Rom, gelockt von Versprechungen eines Diakons. Nachdem sich diese als leeres Gerede herausstellten, schritt Ratleik zur Tat. Zweimal drangen er und seine Helfer nachts in eine an der Via Appia gelegene Kirchengruft ein. Was sie dort fanden, versetzte sie in Begeisterung. Es waren die Gebeine der beiden prominenten Kanonheiligen Marcellinus und Petrus. Heimlich – auf solchen Diebstahl stand die Todesstrafe – brachten die Männer ihre wertvolle Beute aus der Stadt. Erst als sie weit genug von Rom entfernt waren, lüfteten sie ihr Geheimnis. Zahlreiche Gläubige begleiteten daraufhin den Heiligentransport. Über Pavia, St. Moritz und Solothurn führte der Weg nach Straßburg. Von dort ging es mit dem Schiff den Rhein abwärts bis in die Nähe von Mannheim. Nach fünf Tagesmärschen war Michelstadt erreicht. Hier wurden die hoch  verehrten Reliquien feierlich in die neu erbaute Kirche gebracht.

 

 

Vom Odenwald an den Main

 

Damit waren eigentlich beste Voraussetzungen gegeben, die Odenwaldbasilika zum viel besuchten Wallfahrtsort, zum Mittelpunkt eines namhaften Klosters werden zu lassen. Doch dazu kam es nicht. Die Bedeutung der Heiligen Marcellinus und Petrus, römischer Märtyrer unter Diokletian (284 – 305), hatte alle Erwartungen Einhards übertroffen. Beunruhigt durch Traumgesichter der nächtlichen Bewacher und durch eine blutartige Flüssigkeit, die den Reliquienschrein plötzlich durchnässte, machte sich Einhard Sorgen, die Heiligen könnten mit der bescheidenen Basilika als letzter Ruhestätte unzufrieden sein. Wahrscheinlich spielten noch andere Überlegungen eine Rolle. Jedenfalls entschloss sich Einhard, die Reliquien zu seinem wesentlich verkehrsgünstiger gelegenen Besitztum Obermühlheim am Main zu bringen, dort eine größere Basilika zu bauen und ein Kloster zu gründen. Hier fanden der 840 verstorbene Einhard und seine Gattin Imma auch ihre letzte Ruhe.

 

 

Basilika in Seligenstadt 

 

 

Sagen um Einhard und Imma

 

So manche Sage hat sich im Laufe der Jahrhunderte um Einhard und Imma gerankt. Letztere hielt man für eine Tochter Karls des Großen. Das Zusammenkommen des Paares verknüpfte man mit folgender Erzählung: Einhard habe durch sein Genie und seine außerordentlichen Fortschritte in den Wissenschaften das Zutrauen Karls des Großen in einem solchen Grad erworben, dass der Kaiser sich entschloss, ihm seine Tochter Imma zur Gemahlin zu geben. Diese habe dem schönen Deutschen einst eine nächtliche Zusammenkunft in ihrem Gemach gestattet. Während dieser Nacht sei aber tiefer Schnee gefallen. Damit sich Einhard beim Weggehen nicht durch seine Spuren verrate, habe Imma den Geliebten auf ihren Schultern über den Schlosshof getragen. Der früh erwachte Kaiser aber habe die romantische Gruppe wahrgenommen und, anstatt zu strafen, das zärtliche Paar verbunden. Die historische Forschung hat längst deutlich gemacht, dass Imma keine Tochter Karls des Großen war. Auch die Auffassung, Einhard und Imma seien die Stammeltern der Grafen von Erbach, ist dem Bereich der Sage zuzuweisen.

 

 

Vergessene Kirche – reiches Kloster

 

Die verlassene Basilika in Michelstadt-Steinbach diente wahrscheinlich zunächst als Pfarrkirche der im Umfeld entstandenen Siedlung. 1073 gründete Lorsch dort ein Tochterkloster. Infolge der Reformation erlosch das Klosterleben. Die Gebäude kamen an die Grafen von Erbach. Die von den Grafen zuvor als Grablege genutzte Kirche begann zu verfallen, ihre frühe Geschichte geriet in Vergessenheit. Erst 1872 erkannte ein Kunsthistoriker in der Ruine wieder den Kirchenbau Einhards. Heute wird dem karolingischen Bauwerk als älteste Basilika nördlich der Alpen ein herausragender Stellenwert zugemessen.

 

Das in Obermühlheim/Seligenstadt von Einhard gegründete Kloster entwickelte sich zur reichen Benediktinerabtei. Sie bestand fast ein Jahrtausend: 1803 wurde sie im Zuge der landesweiten Säkularisation aufgelöst. Ihre Gebäude, darunter die noch in Teilen aus Einhards Zeit stammende Basilika, sind noch weitgehend erhalten.

 

 

Einhards Reisebericht

 

Bei ihrem Bestreben, jene Altwege ausfindig zu machen, denen die Reliquienprozession im Januar 828 vom Mümlingtal an den Untermain gefolgt sein dürfte, orientiert sich die Geschichtsforschung in erster Linie an Einhards Schrift: Translatio et Miracula SS. Marcellini et Petri (Übertragung und Wunder der Heiligen Marcellinus und Petrus). Um dem interessierten Leser, dem Wanderer oder Radfahrer auf dem heutigen Einhardweg, diese wertvolle Überlieferung und die darin geschilderten Umstände der Überführung etwas näher zu bringen, ist die entsprechende Passage von Einhards Translatio (in der deutschen Übersetzung von Karl Esselborn) nachstehend wiedergegeben:

 

Wir bereiteten alles, was uns zu diesem Umzug nötig schien, in aller Eile und mit dem größten Eifer vor, nahmen beim Frühlicht nach Beendigung der Mette den heiligen und unschätzbaren Schatz zum großen Schmerz und Leidwesen derer, die daselbst zurückbleiben mussten, auf und machten uns damit auf den Weg, begleitet von einer Schar Armer, die an jenen Tagen zum Empfang von Almosen allenthalben dorthin zusammengeströmt waren; denn die umwohnende Bevölkerung war in gänzlicher Unkenntnis dessen, was bei uns vorging. Den Himmel verdüsterten schmutziggraue Wolken, die sich alsbald in einen gewaltigen Regen hätten auflösen können, wäre es nicht durch göttliche Kraft verhindert worden. Denn jene ganze Nacht hindurch regnete es dermaßen ohne Unterlass so sehr, dass es uns vollständig unmöglich schien, den Marsch an jenem Tage zu beginnen. Allein die himmlische Gnade bewirkte durch das Verdienst ihrer Heiligen, dass es sich mit unsrer von Glaubensschwäche herrührenden Bedenken ganz anders verhielt, als wir gewähnt hatten, da wir den Zustand des Weges, auf dem wir schritten, ganz wider Erwarten verwandelt sahen. Wir trafen nämlich nur wenig Schmutz an und fanden die Bäche, die sonst bei so gewaltigem anhaltenden Regen, wie er in dieser Nacht niedergegangen war, anzuschwellen pflegten, fast gar nicht geschwollen vor. Sobald wir aus dem Waldgebirge herausgetreten waren und den nächsten Dörfern zuschritten, empfingen uns zahlreiche Scharen, die uns entgegengekommen waren und Gott priesen. Diese begleiteten uns auf einer Strecke von etwa acht Meilen, halfen uns und den Unsrigen gottergeben beim Tragen der heiligen Last und sangen unverdrossen die Lieder zum Preise Gottes mit.

 

Als wir sahen, dass wir an demselben Tage unsern Bestimmungsort nicht erreichen konnten, bogen wir nach einem Ostheim [= Großostheim] genannten Dorfe ab, das wir nahe an unserm Weg erblickten. Es dämmerte schon, als wir die heiligen Leiber in die in dem Dorfe befindliche St. Martinskirche trugen. Während wir unsre Begleiter hier entließen, damit sie Wache hielten, eilte ich mit einigen wenigen nach dem Orte voraus, dem wir zustrebten, und trafen in der Nacht die von der Sitte zum Empfang heilger Leiber erheischten Vorbereitungen. Zu der Kirche, wo wir unsern hochheiligen Schatz zurückließen, wurde eine gichtbrüchige Nonne namens Hroudlaug aus dem von dieser Kirche eine Meile entfernten Kloster Machesbach [= Mosbach] auf einem Karren von ihren Freunden und Verwandten gebracht. Als sie bei der Bahre der Heiligen mit den übrigen wachend und betend übernachtete, erlangte sie die Gesundheit aller ihrer Glieder wieder und ging auf ihren eignen Füßen am nächsten Tag, ohne dass sie jemand stützte noch ihr sonst irgendwie behilflich war, an den Ort zurück, woher sie gekommen war.

 

Sankt Martinskirche in Großostheim 

 

Als der Morgen graute, standen wir auf und machten uns auf den Weg, um unsern heranziehenden Gefährten entgegenzugehen. Wir hatten eine ansehnliche Menge unsrer Nachbarn bei uns, die, von dem Gerücht der Ankunft der Heiligen herbeigelockt, schon in aller Frühe vor unsern Toren standen, damit sie zusammen mit uns den Heiligen entgegenwanderten. Wir trafen an der Stelle auf sie, wo das Flüsschen Gersprenz [bei Stockstadt] in den Main mündet. von dort setzten wir uns zusammen in Marsch und trugen, die Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi preisend, die heiligen Hüllen der Märtyrer zur Freude und zur Lust aller, die anwesend sein konnten, nach Obermühlheim [...].

 

Soweit die für den Einhardweg grundlegende Passage aus Einhards Translationsbericht.

 

 

Der Einhardweg in der historischen Forschung

 

Mit der Frage, welchen Weg Einhard vom Mümlingtal an den Untermain benutzte, hat sich erstmals der frühere Vorsitzende des Breuberg-Bundes, Dr. Hans H. Weber, 1974 eingehender auseinandergesetzt. Er sprach sich für eine Altwegeverbindung aus, die von Michelstadt-Eulbach auf der Wasserscheide zwischen Mümling- und Maintal nach Norden führt und Großostheim als erste Siedlung berührt, bevor über Stockstadt das Ziel Seligenstadt erreicht wird.

 

1987 und 1989 machte ich auf einige Schwachstellen von Webers Wegführung im Nahbereich meines Heimatortes Mömlingen aufmerksam und wies einen in Vergessenheit geratenen Altweg nach, der von der historischen Grenzmarkierung Eiserner Pfahl (wo Weber seine Route abknicken lässt) geradlinig nach Mosbach im Bachgau und von dort nach Großostheim verläuft. Da in Mosbach damals ein (nur) von Einhard in seinem Translationsbericht erwähntes Kloster bestand, eine von Einhard namentlich genannte Mosbacher Nonne (Hroudlaug) von Großostheim als nächtlichem Aufbewahrungsort der Reliquien wusste (wo sie auf wundersame Weise von ihrer Krankheit geheilt wurde) und Einhard auch die Entfernung zwischen beiden Orten (eine Leuge) angibt, gelangte ich in Verbindung mit weiteren Gründen zu der Überzeugung, dass die Reliquienprozession von 828 durch Mosbach gekommen sein muss. Diese Schlussfolgerung verfestigte sich im Rahmen meiner Untersuchung zur Geschichte des frühmittelalterlichen Klosters Mosbach im Bachgau (Monasterium Machesbach), denn es zeigten sich enge, wahrscheinlich verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Einhard bzw. seiner Gattin Imma und der als Klostergründer ansprechbaren Adelssippe. Zu weiteren Forschungen wurde ich aufgrund folgender Überlegungen und Sachverhalte angeregt: 

 

Nach Einhards Bericht war die Gruppe in Steinbach beim Frühlicht aufgebrochen und in Großostheim bei Einbruch der Dämmerung angelangt. Für den somit nur bei Tageslicht zurückgelegten Weg standen zu dieser Jahreszeit nicht viel mehr als 9 Stunden zur Verfügung. Zieht man in Betracht, dass der Himmel bedeckt war, dass Steilstrecken die (auch von Weber) geschätzte Stundenleistung von 3,5 km minderten und dass schließlich für die Menschen und die wahrscheinlich mitgeführten Tragtiere ausreichende Ruhepausen erforderlich waren, so wird deutlich, dass - auch bei einer noch vertretbar erscheinenden Erhöhung der Rahmendaten auf 10 Stunden nutzbare Gesamtzeit und 4 km Stundenleistung - kaum mehr als 30 bis 34 km bewältigt worden sein können. Die von Weber vertretene Wegführung beträgt jedoch ca. 40 km; über Mosbach ist es (vom Eisernen Pfahl bei Obernburg-Eisenbach aus) nur geringfügig kürzer. Die 1993 von der Basilika-Pfarrei Seligenstadt auf dieser Route nachvollzogene Fußwallfahrt benötigte dafür (auf großteils gut begehbaren Wegen und ohne Lasttiere) bei ausgesprochen flottem Marschtempo 11 Stunden reine Wanderzeit!

 

Fußwallflahrt von Michelstadt nach Seligenstadt 1993 

 

Der bei den bisherigen Forschungen nicht oder nur unzureichend berücksichtigte Zeitfaktor stellte vor die Aufgabe, eine andere, kürzere Altwegeverbindung zu suchen. Hierbei war die Zeitvorgabe hilfreich. Sie erleichtert nämlich die Antwort auf die Frage, ob es von Michelstadt mümlingabwärts damals bereits einen Talweg gegeben hat. Weber hatte sich dagegen ausgesprochen. Die von ihm angeführten Argumente sind nicht zwingend. Recht hat er wohl mit seiner Ansicht, dass es zu dieser Zeit noch keine durchgehend ausgebaute Straße im Mümlingtal gab. Nun wissen wir jedoch durch die Überlieferung der Klöster Fulda und Lorsch, dass zu Einhards Zeit im oberen Mümlingtal außer Michelstadt bereits die Siedlungen König und (wohl Nieder-) Kinzig bestanden, und auch an der frühen Existenz des zentral gelegenen Höchst ist nicht zu zweifeln. Es ist schwer vorstellbar, dass die genannten (und weitere schon vorhandene) Orte nicht durch Talwege oder den feuchten Niederungen ausweichende Hangwege miteinander verbunden gewesen sein sollen.

 

Dafür, dass die Reliquienprozession sie benutzt hat, spricht der von Michelstadt-Steinbach nach Norden, also in Richtung Seligenstadt orientierte Talverlauf und die dadurch gegebene erhebliche Zeit- (und Kraft-) Ersparnis gegenüber dem ca. 5 km weiter östlich verlaufenden Höhenweg, dessen Anbindung an Michelstadt (über Eulbach) sogar in entgegen gesetzte Richtung führt. Auch die Translatio enthält Hinweise auf eine Talwegbenutzung. Einhard spricht von einem trotz vorausgegangenem starken Regens wider Erwarten guten Zustand des Weges und von nur wenig angeschwollenen Bächen, die offenbar überquert worden sind. Hätte man die Höhenstraße gewählt, so wäre eine schlechte Wegqualität erst gar nicht zu erwarten gewesen und außer der Mümling  hätte man vor Verlassen der Waldlandschaft keinen Bach zu Gesicht bekommen. Im Tal dagegen waren mehrere, aus den Seitentälern kommende Bäche zu passieren.

 

Wegweiser Alte Frankfurter Straße 

 

In Höchst, wo sich das Mümlingtal nach Nordosten wendet und wo, ebenso wie bei Michelstadt-Steinbach, eine alte Mümlingfurt vorausgesetzt werden kann, bietet sich der direkte Anschluss an einen Weg, der gleich mehrere überzeugende Voraussetzungen erfüllt, um mit Einhard in Verbindung gebracht zu werden. Ich meine die Alte Frankfurter Straße, die in umgekehrter Richtung als Höchster Straße bezeichnet wird. Zahlreiche flankierende Hügelgräber und bis in die Römerzeit zurückreichende Siedlungsspuren, darunter das mit der Straße besonders eng verknüpfte Wambolt-Schlösschen, die vielfältigen Anbindungen an weitere Altstraßen und Siedlungen und nicht zuletzt die überlieferte Bezeichnung als Via Regia, allein schon diese Fakten lassen das hohe Alter und die überörtliche Bedeutung dieser von Höchst nach Norden ziehenden Höhenstraße unschwer erkennen.

 

Einhard, der ja oft zwischen Untermain und Mümlingtal unterwegs gewesen sein muss, war dieser die beiden Räume zielstrebig verbindende Fernweg zweifellos bekannt, und er hat ihn sicher auch oft benutzt. Dass dies auch bei der Reliquienübertragung im Januar 828 der Fall war, verdeutlichen zwei weitere Sachverhalte. Der erste ergibt sich aus der Straßenführung selbst. Folgt man (von Höchst kommend) an der Wegspinne westlich von Dorndiel dem geradlinigen Ast der Höhenstraße (der in Richtung Frankfurt zielende Zweig biegt nach links ab) und dem Wegweiser Radheim, so erreicht man nach überraschend kurzer Zeit die Bachgauebene und jenen Ort, den wir den oben genannten Gründen mit einiger Sicherheit als Prozessionsstation aus Einhards Translatio erschließen können: Mosbach!

 

Zuvor lässt sich auch jene Stelle überzeugend zu lokalisieren, von der Einhard schreibt: „Sobald wir aus dem Waldgebirge herausgetreten waren und den nächsten Dörfern zuschritten, empfingen uns zahlreiche Scharen, die uns entgegengekommen waren und Gott priesen.“ Oberhalb von Radheim endet nämlich der bis dahin durchgehende Wald und die Randhöhe des Odenwaldes fällt jäh zum Pflaumbachtal hin ab. Von hier reicht der Blick weit hinaus in die Bachgauebene, so dass die Reliquienprozession schon von fern zu sehen war. Der Weg von hier nach Großostheim berührt die eng benachbarten Dörfer Radheim, Mosbach, Wenigumstadt, Biebigheim (wüst) und Pflaumheim, deren damalige Existenz schriftlich belegt bzw. archäologisch nachgewiesen ist.

 

Auf dem Einhardweg im Bachgau 

 

Die bereits in der Frühzeit gegebene und bis in die Neuzeit reichende überörtliche Bedeutung der aufgezeigten Altstraßenverbindung zwischen Mümlingtal und Bachgau, zwischen Odenwaldgebirge und Untermainebene, verdichtet die in Verbindung mit bereits aufgezeigten Fakten und Indizien gewonnene Ansicht, dass der Karlsbiograph Einhard diesen Fernweg benutzt hat, als er am 16. Januar 828 die Reliquien der Heiligen Marcellinus und Petrus von Michelstadt-Steinbach nach Großostheim tragen ließ. Die hierbei zurückgelegte Strecke beträgt auf der beschriebenen Route ca. 30 bis 32 km, liegt also innerhalb des vorgegebenen zeitlichen Rahmens, der sich bei einer Wegführung über die Höhen östlich der Mümling nicht einhalten lässt.

 

Webers Untersuchungsergebnisse werden deshalb keineswegs uninteressant. Der von ihm beschriebene Höhenweg und seine Anbindungen verdienen nach wie vor Beachtung in der Altstraßenforschung, und wer wissen will, auf welcher Route Einhards Reliquienzug die ca. 20 km lange Reststrecke Großostheim - Seligenstadt (Obermühlheim) zurückgelegt haben kann, wird weiterhin bei Weber nachlesen.

 

 

Der Einhardweg für Wanderer und Radfahrer

 

Noch aus einem anderen Grund wird (ein Großteil von) Webers Wegführung einschließlich der von mir für den Abschnitt Eiserner Pfahl - Großostheim nachgewiesenen Altwegeverbindung über Mosbach nicht in Vergessenheit geraten. Im Sommer 1995 fassten die Magistrate von Michelstadt und Seligenstadt in einer gemeinsamen Sitzung den von mir angeregten Beschluss, beide Routen als „Einhardweg“ auszuschildern. Durch das Angebot einer Wahlmöglichkeit für den Odenwaldabschnitt Steinbach - Mosbach dürfte eine wesentlich größere Anzahl von Einhardweg-Interessierten gewonnen werden. Die beiden Routen kommen nämlich recht unterschiedlichen Interessen entgegen.

 

Den Weg über die Höhen östlich des Mümlingtales (alte These) werden Wanderer wählen, die gerne abseits belebter Strecken unterwegs sind und eine abwechslungsreiche Landschaft schätzen. Um die Orientierung auf dieser anspruchsvollen Route zu erleichtern, ist hier die Einhardweg-Markierung durchgehend angebracht.

 

Der Weg über Höchst (neue These) bietet andere Vorteile. Er ist kürzer, bequemer (nur eine größere Steigung), berührt mehr Orte (mit Nahverkehrsanbindungen) und ist auch für Radfahrer gut geeignet. Da die Strecke schon großteils als Rad- bzw. Wanderweg ausgewiesen ist und die Wegweiser der Alten Frankfurter Straße auch nach Radheim führen, erübrigt sich hier eine durchgehende Beschilderung. Ab Mosbach, wo sich beide Routen vereinen, zeigt die Markierung Einhardweg, wie es für Wanderer und Radfahrer nach Seligenstadt weitergeht.

 

Der Einhardweg soll dazu einladen, den landschaftlich reizvollen Altwegverbindungen zwischen den beiden romantischen Fachwerkstädten Michelstadt und Seligenstadt und ihren berühmten Einhardbasiliken zu folgen und damit die Erinnerung an ein bedeutendes Ereignis unserer Heimatgeschichte wach zu halten, das bis in unsere Zeit nachwirkt.

  

Literatur

Wolfgang Hartmann: Der „Einhardweg" von Michelstadt nach Seligenstadt.
In: Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1997, S. 93-102.

 

 

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